Kritisch-konstruktive Didaktik

Wolfgang Klafki (1985)
"'Kritisch' ist die Position, weil die Didaktik zu bedenken hat, daß die schulische und gesellschaftliche Wirklichkeit das Erreichen ... [von Zielen] in vielfältiger Weise behindert. Sie soll diese Restriktion aber nicht einfach hinnehmen, sondern — gemeinsam mit anderen Instanzen — auf ihre Beseitigung hinwirken." [ 1 ]
'Konstruktiv' ist sie, weil sie "... sich nicht mehr damit zufrieden gibt, innerhalb der vorgegebenen institutionellen und curricularen Rahmenbedingungen Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung zu formulieren, sondern so etwas wie eine konkrete Utopie ..." [ 2 ] entwirft:
"Vorgriffe der Theorie, Modellentwürfe für mögliche Praxis, begründete Konzepte für veränderte Praxis, für eine humanere und demokratischere Schule." [ 3 ]

Ziel von Schulunterricht ist es, "... den Lernenden Hilfen zur Entwicklung ihrer Selbstbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit, deren eines Moment Mitbestimmungsfähigkeit ist, zu geben." [ 4 ]
Die Schüler sollen in die Lage versetzt werden, ihr Handeln zu begründen und zu reflektieren. Ihre Emotionalität soll entwickelt werden, und sie sollen fähig sein, auf "... die eigenen Beziehungen zur natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit im Sinne begründeter Zielsetzung aktiv einzuwirken."[ 5 ]
Die Schüler sollen sich mit Unterstützung des Lehrers Erkenntnisse, Urteils-, Wertungs- und Handlungsmöglichkeiten und somit die Fähigkeit zu eigenständigem Lernen selbständig aneignen. Um diese Ziele zu erreichen, muss das Lernen ein entdeckendes bzw. nachentdeckendes und sinnhaftes, verstehendes Lernen sein. Die reproduzierte Übernahme von Kenntnissen, das Üben und Wiederholen von Fertigkeiten muss dem eindeutig nachgeordnet oder besser eingeordnet werden. Eine didaktische Begründung kann sich nur aus der Theorie des 'Entdeckenden Lernens' ergeben.
Lehren wird als Hilfe eines Lernprozesses verstanden. Somit muss es im Sinne des Selbstbestimmungs- und Solidaritätsprinzips gerechtfertigt und geplant werden, d.h. die Lernenden müssen in die Planung miteinbezogen werden. Unterrichtskritik und 'Unterricht über Unterricht' sind somit Bestandteile des Schulunterrichts. Soziales Lernen im Sinne einer demokratischen Sozialerziehung muss bewusst und zielorientiert bei der Planung des Unterrichts gleichberechtigt mit den o.g. Zielen einbezogen werden. Die Lehrer- und Schülerpersönlichkeiten, die Einstellungen und Handlungsweisen, soziale Verhältnisse und Konflikte sind somit Bestandteil der Unterrichtsplanung.
In der 'Kritisch-konstruktiven Didaktik' wird unter Allgemeinbildung eine allseitige Bildung für alle Menschen im Medium des Allgemeinen verstanden. Fundament des Bildungsbegriffes ist das Aufklärungspostulat, das lautet "... Bildung und Erziehung haben die Aufgabe, dem unmündigen Menschen zur Mündigkeit zu verhelfen."[ 6 ]
Allgemeinbildung bezeichnet die Fähigkeit eines Menschen, kritisch sachkompetent, selbstbewußt und solidarisch zu denken und zu handeln.[ 7 ]
Die Unterrichtsinhalte sollen nach Zentral- bzw. Schlüssselproblemen ausgewählt werden. KLAFKIS These lautet: "Bildung bzw. Allgemeinbildung bedeutet ..., ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der gemeinsamen Gegenwart und der voraussehbaren Zukunft gewonnen zu haben, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller angesichts solcher Probleme und Bereitschaft, sich ihnen zu stellen und am Bemühen um ihre Bewältigung teilzunehmen." [ 8 ]
Die Inhalte müssen sich sowohl durch ihre Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung für die Schüler als auch durch ihre exemplarische Bedeutung begründen lassen. "Am potentiellen Thema müssen sich allgemeine Zusammenhänge, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten, Strukturen, Widersprüche, Handlungsmöglichkeiten erarbeiten lassen."[ 9 ]
Klafki unterscheidet zwischen vier Lehrzielebenen. Die erste Ebene ist die allgemeinste. Hier hinein gehören die o.g. Begriffe Selbstbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit. Hierbei geht es um die "... Klärung der Beziehungen zwischen der Selbstbestimmung des einzelnen einerseits und der kritischen Aktivität in größeren gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen andererseits." [ 10 ]
Die zweite Ebene ergibt sich durch die Konkretisierung auf eine Reihe von überfachlichen Qualifikationen. Hier sind zu nennen "... 'Kritik- und Urteilsfähigkeit', 'Kommunikationsfähigkeit', 'Fähigkeit, einen eigenen Standpunkt vertreten, aber auch, ihm aufgrund besserer Einsicht korrigieren zu können' ..."[ 11 ] usf. Die dritte Lehrzielebene umfasst die bereichsspezifische Konkretisierung dessen, was auf den ersten beiden Ebenen angesiedelt ist. Ein Problembereich könnte sein: "... Auseinandersetzung des Menschen mit der anorganischen und organischen Natur ...".[ 12 ]
Auf der vierten Ebene geht es, orientiert an den Zielsetzungen der drei zuvor genannten Ebenen, um eine Lehrzielbestimmung im Bereich einzelner Fächer bzw. fachübergreifender Beziehungen. Es wird nicht gefordert und ist auch nicht erreichbar, in jeder Unterrichtsstunde primär die generellen Ziele wie Selbstbestimmung und Solidarität zu verfolgen. "Das ändert freilich nichts daran, daß die genannten allgemeinsten Zielsetzungen im Prinzip der letzte Orientierungshorizont jeder Unterrichtsplanung ... sind."[ 13 ]

Bei allen Planungsphasen des Unterrichts wird Bezug auf die Bedingungsanalyse genommen. Unter Bedingungsanalyse wird dabei die "... Analyse der konkreten, sozio-kulturell vermittelten Ausgangsbedingungen einer ... Klasse, des/der Lehrenden sowie der unterrichtsrelevanten ... institutionellen Bedingungen, einschließlich möglicher oder wahrscheinlicher Schwierigkeiten bzw. Störungen ..." verstanden.[ 14 ]

(Vorläufiges) Perspektivenschema zur Unterrichtsplanung

Bedingungsanalyse

Begründungszusammenhang

Thematische Strukturierung

Bestimmung von Zugangs- und Darstellungsmöglichkeiten

Zugänglichkeit bzw. Darstellbarkeit ( u. a. durch bzw. in Medien)

Methodische Strukturierung

Lehr-Lern-Prozessstruktur verstanden als variables Konzept notwendiger oder möglicher Organisations- und Vollzugsformen des Lernens (einschl. sukzessiver Abfolgen) und entspr. Lehrhilfen, zugleich als Interaktionsstruktur und Medium sozialer Lernprozesse


Unterrichtsrealisation

Bedingungsanalyse

Analyse der konkreten, sozio-kulturell vermittelten Ausgangsbedingungen einer Lerngruppe (Klasse), des/der Lehrenden sowie der unterrichtsrelevanten (kurzfristig änderbaren oder nicht änderbaren) institutionellen Bedingungen, einschließlich möglicher oder wahrscheinlicher Schwierigkeiten bzw. Störungen.

Die Begründungsproblematik

Vorweg muss hier besonders betont werden, dass die drei Fragen des Begründungskomplexes im Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit voneinander stehen; dieser Sachverhalt verbietet es, sie in eine verbindliche Reihenfolge bringen zu wollen. Es handelt sich also eher um eine analytische Unterscheidung dreier Frageperspektiven, die im konkreten Planungsprozess nur in ständigem Hinüber- und Herüberwechseln der Reflexion beantwortet werden können. Insofern ist auch die Reihenfolge, in der sie hier erläutert werden, willkürlich.

Wir fragen zunächst: Warum soll nach der Gegenwarts- und der Zukunftsbedeutung einer ins Auge gefassten (zielorientierten) Thematik gefragt werden?

Unterricht hat — in dem hier maßgeblichen Verständnis — in folgendem Sinne eine Vermittlungsaufgabe: Er soll, indem er dem jungen Menschen in seiner gegenwärtigen Lebensphase Verstehens-, Urteil- und Handlungsmöglichkeiten eröffnen, ihm zugleich zu entsprechenden Entwicklungsmöglichkeiten auf seine Zukunft hin verhelfen. Deshalb müssen für den Unterricht vorgesehene Themen und die sie konstituierenden Ziele durch ihre Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung für den jungen Menschen begründet werden. Das gilt sowohl dann, wenn ein Ziel-Themen-Zusammenhang durch einen Lehrplan verbindlich oder alternativ vorgegeben ist, als auch dann, wenn ein Lehrer einen solchen Zusammenhang von sich aus hypothetisch ins Auge faßt, aber auch dann, wenn es sich um einen Schülervorschlag handelt, z. B.: "Wir wollen mal einen Krimi in der Schule lesen" oder etwa "Wir könnten eigentlich mal im Unterricht eine anständige Klassenfete vorbereiten!"

Gegenwartsbedeutung

Die Frage nach der Gegenwartsbedeutung (1. Frage), die wesentliche Aspekte dessen einschließt, was z. B. in der "Berliner Didaktik" bzw. im Anschluß an sie "Bedingungsanalyse" genannt wird, muß nun etwas präziser als Frage nach dem von Kindern und Jugendlichen erfahrenen und praktizierten Sinnbeziehungen und Bedeutungssetzungen in ihrer Alltagswelt bestimmt werden. Darin drückt sich — gegenüber der gesellschaftstheoretisch nur wenig reflektierten Auslegung dieser Frage in der alten Didaktischen Analyse — die Erkenntnis aus, dass dieses gegenwärtige Alltagsleben der Kinder und Jugendlichen, das sich in ihren Interessen und ängsten niederschlägt, in dem, was sie als Glück oder Sorge erfahren, in ihren Wertungen und Vorurteilen, immer durch bestimmte Sozialisationsbedingungen unserer Gesellschaft vermittelt ist. Gemeint sind zum einen generelle Bedingungen — wie etwa der Einfluss einer stark technisierten Umwelt —, zum anderen aber schicht- und klassenspezifische oder regionale Bedingungen (Stadt, Land) oder durch die Konfession geprägte Sozialisationsvoraussetzungen.

Insofern kann die Gegenwartsbedeutung eines ins Auge gefassten Teil- und Themenzusammenhanges — abkürzend angedeutet: "Wohnen", "Freunde", "Was bedeutet mir meine Familie?", "Spielzeug", "Jungen und Mädchen", "Fahrrad und Radfahren", "Brauchen wir eigentlich Gewerkschaften?" — für Kinder und Jugendliche — kognitiv, emotional und handlungsbezogen — sehr unterschiedlich sein.

Zukunftsbedeutung

Entsprechendes gilt für die mögliche vermutete Zukunftsbedeutung (2. Frage). Sie kann sich in der Sicht von Schülern verschiedener sozialer Herkunft und in der Einschätzung durch den Lehrer im Hinblick auf die Zukunft der Schüler — etwa bei dem Thema "Brauchen wir eigentlich Gewerkschaften?" — durchaus unterschiedlich darstellen. Eine solche Divergenz könnte ein besonders wirksamer Anstoß zur kritischen Reflexion auf gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse sein, vorweggenommene Entscheidungsalternativen verdeutlichen, zum Nachdenken über Alternativen gesellschaftliche Entwicklung anregen.

An diesem Beispiel kann ein Weiters besonders deutlich werden: Die Frage nach der gegenwärtigen und der vermutlichen zukünftigen Bedeutung potentieller Ziel-Themen-Zusammenhänge für die Schüler muss, sofern Unterricht als Interaktionsprozess verstanden wird, zugleich als Frage an den planenden Lehrer oder die Lehrergruppe verstanden werden: Welche Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung hat die zur Diskussion stehende Thematik für den Lehrer, welcher eigenen Voreinstellungen, Vorurteile, Interessen wird sich der reflektierende Lehrer bewusst sofern er die Frage auf sich bezieht? Welche Vorstellungen über die gegenwärtige oder die wünschenswerte zukünftige Gesellschaft, über Möglichkeiten technischer Entwicklung, über die Mitbestimmungsfrage usw. hat er selbst?

Exemplarische Bedeutung

Ein thematischer Zusammenhang kann nicht allein durch die Gegenwarts- und Zunkunftsbedeutung didaktische gerechtfertigt werden, sondern erst, wenn darüber hinaus auch seine exemplarische Bedeutung nachgewiesen werden kann: Am potentiellen Thema müssen sich allgemeinere Zusammenhänge, Beziehungen, Gesetzmäßigkeiten, Strukturen, Widersprüche, Handlungsmöglichkeiten erarbeiten lassen. Sprachlich lässt sich die jeweilige Intention bzw. lassen sich die Intentionen als Lernziele einer bestimmten Unterrichtseinheit, eines Projektes oder einer Lehrgangssequenz formulieren: Welches ist das bzw. welches sind die allgemeineren und die spezielleren Lernziele, die anhand eines als mögliches Unterrichtsthema zu durchdenkenden Inhalts angestrebt werden können bzw. sollen?

...

Mit der vorher formulierten Lernzielfrage wird das Problem einer Hierarchie von Lernzielen oder Lernzielebenen aufgeworfen. Wenn nämlich gefragt wird:

Welche allgemeineren bzw. welche spezielleren Ziele sollen anhand eines ins Auge gefassten Themas angesteuert werden, so stellt sich sofort die Frage: Wie sieht die Struktur eines Lernzielsystems mehr oder minder allgemeines, spezieller oder speziellster Ziele aus? — Gibt die Curriculumtheoreie oder ein bestimmter Lehrplan, eine Rahmenrichtlinie eine solche Hierarchie von Lernzielen vor, angesicht derer man die Analyse des etwaigen Themas vornehmen kann?

Thematische Strukturierung

  1. Thematische Strukturierung und Formulierung von Teillernzielen
    Die Thematik des Unterrichts umfasst immer (oder fast immer) auch Verfahrensweisen, "Methoden" im weiteren Sinne des Wortes, die Schüler sich aneignen bzw. mit denen sie sich auseinandersetzen sollen: mathematische oder naturwissenschaftlich-technische Lösungsweisen, das Erkundungsverfahren des Interviews im Rahmen einer Gesellschaftslehre-Einheit, Sprachhandlungsformen oder Konfliktlösungsformen in der Lerngruppe anhand einer konkreten Auseinandersetzung usw. Die Formulierung dieser Beispiele soll darauf hinweisen, dass solche "Methoden" nie getrennt von inhaltlichen Bezügen erarbeitet werden dürften.
  2. Erweisbarkeit und Überprüfbarkeit
  3. Bestimmung von Zugangs- und Darstellungsmöglichkeiten
  4. Methodische Strukturierung[ 15 ]


Quellen:

KLAFKI, Wolfgang (1985). "Zur Unterrichtsplanung im Sinne kritisch-konstruktiver Didaktik". In W. Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik (S. 194-227), Beltz Weinheim, Basel 1985

KLAFKI, Wolfgang (a): "Die bildungstheoretische Didaktik im Rahmen kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft". In: GUDJONS, Herbert: Erziehungswissenschaft kompakt. Bergmann+Helbig, Hamburg 1993a

KLAFKI, Wolfgang (b): "Lernen in Gruppen". In: Gudjons, Herbert (Hrsg.): Handbuch Gruppenunterricht. Beltz Weinhein Basel 1993b

JANK, Werner / MEYER, Hilbert: Didaktische Modelle. Cornelsen Scriptor Frankfurt a. M. 1991

BRAUN, Jan-Peter: Ausgewählte Didaktische Theorien und ihr Einfluß auf die Fachdidaktik Physik. Flensburg, Schriftliche Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für die Laufbahn der Realschullehrer in Schleswig-Holstein, 1994. [Ms., unveröffentlicht.]


[ 1 ]KLAFKI 1985, S. 37 f. nach JANK/MEYER 1991, S. 166
[ 2 ]JANK/MEYER 1991 S. 167
[ 3 ]KLAFKI 1985, S. 38 nach JANK/MEYER 1991, S. 167
[ 4 ]KLAFKI 1993a, S. 12 f.
[ 5 ]ebd. S. 12
[ 6 ]KLAFKI nach JANK/MEYER 1991, S. 137
[ 7 ]vgl. JANK/MEYER 1991, S. 177
[ 8 ]KLAFKI 1985 nach JANK/MEYER 1991, S. 177f
[ 9 ]KLAFKI 1993a, S. 17
[ 10 ]ebd. S. 17
[ 11 ]ebd. S. 18
[ 12 ]ebd. S. 18
[ 13 ]ebd. S. 19f
[ 14 ]KLAFKI 1985, S. 215 nach JANK/MEYER 1991 S. 171
[ 15 ]KLAFKI 1985, S. 194-227